Vom offenen Geist

Haben Sie einen offenen Geist? Sicher würden Sie der Aussage zustimmen. Natürlich sind Sie offen für eine Diskussion über den Klimawandel, Gendergerechtigkeit und die Einführung von Elektroautos. Keine Frage. Aber heißt das schon, dass Sie einen offenen Geist haben?

Die deutsche Managementtrainerin und Sachbuchautorin Vera F. Birkenbihl verweist während einer ihrer Vorträge („Der wichtigste Faktor- Richtig Denken lernen / Vera F. Birkenbihl / Lernen der Zukunft #3“) dazu auf das Buch „Open and Closed Minds“ von Milton Rokeach. Nach Rokeach zeichne sich ein offener Geist dadurch aus, Informationen aufzunehmen, und zwar absolut neue Informationen, die das angreifen, was wir zu wissen glauben. Solange es um Informationen von derselben Art geht, sind es laut Rokeach keine neuen Informationen.

Nun sagt wohl jeder: Nah, klar habe ich neue Informationen, und zwar jeden Tag. Zum Beispiel ein Banker wird wohl jeden Tag neue Zahlen zu Umsätzen, Aktienkursen und Gewinnen haben und auch die Wirtschaftssituation ändert sich von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr. Das sind allerdings nur Variationen von immer denselben Informationen. Denn der Banker arbeitet immer noch mit Umsätzen, Aktienkursen, Gewinnen und Wirtschaftssituationen. Er arbeitet nicht mit absolut neuen Ideen oder Informationen. Denn das Unglaubliche zu denken, darin zeichnet sich ein offener Geist aus.

In einem Gespräch ergäben sich laut Rokeach daraus vier Möglichkeiten, wobei der geschlossene Geist nur Variante 1 und 4 fahren könne, der offene Geist aber alle vier. Die vier Situationen sind die Folgenden:

  1. Sender ok, Botschaft ok
  2. Sender nicht ok, Botschaft ok
  3. Sender ok, Botschaft nicht ok
  4. Sender nicht ok, Botschaft nicht ok

Was heißt das nun? Der geschlossene Geist verheiratet den Sender und die Botschaft. Will heißen: Frau XY finde ich spitze und das, was sie sagt, ist auch immer super. Es gibt also gar nicht die Möglichkeit, dass Frau XY auch mal Blödsinn reden kann. Mag der geschlossene Geist den Sprecher nicht, ist auch die Nachricht immer Schrott. Also, Herr Müller ist sowieso doof und deshalb redet der auch immer Stuss. Dass Herr Müller auch mal was sagen könnte, worüber man mal nachdenken sollte, gibt es für eine Person mit geschlossenem Geist nicht.

Die Welt der geschlossenen Geister ist einfach. Schwarz ist immer Schwarz und Weiß ist immer Weiß. Und dazwischen gibt es ein Vakuum. Nur entspricht das der Realität oder der Komplexität des Lebens, das sie kennen?

Offene Geister hingegen sind – nah, eben offen, und zwar für die Zwischentöne, die Graustufen und das Hinterfragen. Könnte es sein, dass Herr Müller, der normalerweise dummes Zeug redet, in diesem Punkt eventuell Recht hat? Ist es möglich, dass Frau XY, die ich normalerweise sehr schätze, in diesem Fall Blödsinn redet?

Das Ablehnen einer Aussage, nur weil sie von einer unliebsamen politischen Seite kommt, als ob die nie etwas Vernünftiges sagen könnte, ist kontraproduktiv. Denn was, wenn diese Seite zum Beispiel deklarieren würde, dass sie die Todesstrafe ablehnen würde. Soll man dann dafür sein, nur weil man es nicht schafft die Position, die positiv ist, von dem Sprecher zu trennen?

Oder gehen wir in die Wissenschaft: Sollte man jede Idee rundweg ablehnen, nur weil sie nicht von dem gerade renomiertesten Wissenschaftler kommt? Natürlich sind renommierte Wissenschaftler in der Regel aus guten Grund gerade renommiert. Nur die Minderheitenmeinung hat die Mehrheitenmeinung in der Wissenschaft von jeher befruchtet. Geistiges Wachstum passiert eben nur, indem man Dinge hinterfragt.

Einen kleinen Vorgeschmack auf eine Welt der geschlossenen Geister bekommen wir gerade in diesen Tagen. Die Welt feiert die Einteilung in richtig und falsch, gut und böse, solidarisch und unsolidarisch, geimpft und ungeimpft. Wie wird das Leben wohl in ein paar Jahren aussehen, wenn wir auf diesem Weg weitergehen? Die Einteilung der Welt in Licht und Schatten wird der Vielfalt des Lebens und der Realität nicht gerecht. Lassen Sie sich Ihren offenen Geist nicht verbieten.

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